Später Wochenrückblick 2



Einige haben mich gefragt, wie ich denn darauf komme in ein dritte-Weld-land zu gehen, ein Jahr lang. Und ich dachte mir, Argentinien, ist doch kein dritte Welt Land! Das Image hat es nicht. Man sagt Buenos Aires ist wie die ganzen europäischen Großstädte zusammen, und ich hab mir dazugedacht: Mit 12 mio. Leuten, mit südamerikanischen Blut, und der dazugehörigen Mentalität. Ich bin schon hergekommen, weil ich dachte das Leben ist hier spannender. Ich hab mir vorgestellt, ein riesengroßes Paris, in der lauter Gael García Bernals rumlaufen.
Ich hab ja geschrieben, dass mich die Stadt anfangs erschreckt hat, um nicht zu sagen enttäuscht. Riesig, laut, schmutzig, heruntergekommen und arm (großteils). Daran hab ich mich gewöhnt, hab den Charme erkannt. Und vor allem gemerkt, dass der zweite Teil, den ich erwartet hab, das südamerikanische Leben einfach nicht in einem Paris zu finden sein kann.
Es stimmt, die Leute leben hier mehr, intensiver. Und das hat, glaube ich, mit dem Chaos des Landes zu tun. Jeden Tag können irgendwelche Diebe in dein Haus spazieren, deine Schubladen leerräumen, und dich mit deinen Schnürsenkeln an den Stuhl binden (Wie das vor einigen Wochen den Großeltern von Kop und Boti passiert ist). Auch kommt es mir so vor, als hätten viel mehr Menschen, viel früher schon irgendein Unglück, ein Unfall, oder Todesfall in nahem Unfeld gehabt. Was mich bei dem Fahrstiel in BsAs nicht wundert.
Durch diese Unsicherheit entsteht eine andere Einstellung zum Leben, als die der Deutschen, die davon ausgehen, dass, wenn sie ab 27 ihre Rente zahlen, sie mit punkt 67 zurückgezahlt bekommen.
Intensives Leben, aber auch: Stolz ist mir aufgefallen. Dazu habe ich noch keine gute Theorie entwickelt, und sag einfach mal, das liegt an dem italienischen und spanischen Immigrantenblut. Die Argentiner sind wahnsinnig stolz, was man schon daran merkt, das es wenig Bettler gibt, wie man sie aus zB Asien kennt, die einem anbetteln. Es leben viele viele Leute auf der Straße hier, und sobald man in ein Subte steigt kommt ein Kind und jongliert, ein Getränkeverkäufer, und ein Jugendlicher der dir ein Buch, eine Karte oder eine Packung Haargummis in den Schoß legt, damit du es ihm für 2 Pesos abkaufst. Wenn du es nicht tust, sammelt er sie wieder ein. Ohne ein Wort. Kein argentinscher Bettler wird dich anbetteln. Komisch, is aber so.
Wir haben in meinem "Nuevo Cine Latinoamerikano" Kurs das "Manifesto von Santa Fe" gelesen, die Deklaration einer Gruppe von avantguardischen (sagt man das?) Filmemachern der 70-er unter der Leitung von Fernando Birri:
"El subdesarrollo es un dato hecho para latinoamérica, Argetina incluida!"
"Die Unterentwicklung von Lateinamerika ist ein gegebenes Faktum, auch in Argentinien!"
Nur, dies so klar zu sagen, war Revolution.
Jedem Argentinier der diesen Satz aussprechen muss, blutet das Herz, stell ich mir vor. Und ich glaub, darin liegt auch die Ursache zweier Dinge, für die Argentinien berühmt ist: Die plötzliche Wirtschaftskrise 2001, und die weltweit höchste Ratio an Psychologen pro Einwohner.
So ne krasse Krise kann nicht aus dem Nichts kommen, da muss etwas jahrzehntelang unter den Teppich gekehrt worden sein. Und dann macht es irgendwann: Bumm.
Es gibt hier viele Tabus, die es bei uns nicht mehr so sehr gibt. Von Sex zu reden, von Drogen, von persönlichen Problemen. Das ist der Stolz, und auch der Grund für Freud´s Fanclub: BsAs.
Ein Beispiel: Den ofiziellen Zahlen nach, gibt es in Argentinien keine Inflation, aber jeder merkt, dass er diesen Monat ein drittel weniger in Supermarkt bekommt für das gleiche Geld, wie vor zwei Monaten.
Es erinnert an die Anekdote aus dem sozialistischen Ungarn: Der Bauer hat 60 Kühe, meldet 80, das hört sich besser an, der Beamte meldet 100, das ist rund, der Minister meldet 120, wir sind ja schließlich eine effektive Planwirtschaft, und so wird entschieden 60 zu exportieren, und mit den anderen 60 das Volk zu ernähren.
Überhaupt erinnert mich Argentinien immer wieder an Ungarn.

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