Bücherliebe
„Wenn man ein Buch hat ist man nie alleine“ hat mal ein
schlauer Mensch gesagt. Nur hätte er ein bisschen präzisieren müssen. „Wenn man
ein Buch zum Freund hat ist man nie alleine“ sag ich. Aber ich bin mir sehr
bewusst, dass ich noch viel mehr präzisieren muss. Nicht jedes Buch ist dein
Freund. Es gibt Bücher die sind eine Akkumulation von Seiten mit einem
Umschlag. Es ist jedes Buch erst einmal eine Akkumulation von Seiten mit einem
Umschlag. So wie ein Mensch erst einmal nichts weiter als ein Körper ist. Er
kann dir im ersten Anblick gefallen und missfallen, es kann sein, dass du schon
Vorstellungen von dem Mensch hast, dass dir jemand von ihm erzählt hat, bevor
du ihn kennen lernst. Und dann zeigt es sich, ob er zu deinem Freund wird. Es
passiert nicht oft, dass ein Mensch, den du kennen lernst, sich in deinen Freund
verwandelt. Die meisten Menschen die man kennen lernt sucht man sich nicht
selber aus. Es sind Klienten, Kollegen, Kommilitonen. Man muss erst einmal
irgendwie mit ihnen umgehen. Und dann stellt es sich heraus, ob es angenehm,
unangenehm, oder vollkommen egal ist, ob und wie man Zeit mit ihnen
verbringt. Und in seltenen Fällen, einmal im Monat oder im Jahr, oder seltener,
wird einer von diesen Menschen zum Freund.
Wenn du einen Freund hast, bist du nicht alleine.
Genauso ist es mit den Büchern. Nicht jedes Buch gibt dir das Gefühl nicht
alleine zu sein. Ich stelle mir Studenten vor, beladen mit Büchern, oder junge
Frauen mit dem Regal voll Kochbüchern... Aber selbst bei der grossen Anzahl „guter“ Bücher die
es gibt, ist es schwer einen richtigen Freund zu finden. Es liegt nicht nur
daran, wie der andere Mensch ist, sondern an viel mehr, ob sich eine Freundschaft
entwickelt. An dir selber, der Situation des Kennenlernens, an die Zeit die man aufbringt.
Und es gibt natürlich jede Abstufung von Freundschaft mit Büchern die es auch
in zwischenmenschlichen Beziehungen gibt.
Man kann sich auch in ein Buch verlieben. Wirklich. Man
vergisst dann aus der Bahn auszusteigen, verpasst die Bushaltestelle, und der
eigene Fleisch und Blut Freund wird eifersüchtig wenn man von dem Buch erzählt.
Da er aber nie zugeben wird, dass er auf ein Buch eifersüchtig ist, projiziert
er seine Eifersucht auf den Autor. Und dann passiert es, dass man SMS bekommt,
in denen steht: „Gute Nacht, Süße, ich hoffe du hast nicht zu viel Spaß mit
diesem Arsch von Kundera.“ Es ist eine Liebesgeschichte, man benutzt jeden Moment, jede
Busfahrt, und kann oft gar nicht abwarten, bis man zu Hause ist, alle Leute
weg sind und man sich ohne schlechtes Gewissen dem geliebten Buch widmen kann.
Das Traurige ist, dass das Ende einer solchen Liebesbeziehung noch viel
absehbarer ist, als das Ende einer Liebesbeziehung zwischen Menschen. Man ließt
das Buch aus. Es ist fertig. Dann ließt man noch die Kurzbiographie des Autors,
und die Liste aller in dem Verlag erschienen Bücher, und wenn es ganz
schlimm ist, noch die erste Seite mit den Angaben des Verlags über Ausgabe,
Verlagsort und Jahr... Schlimmstenfalls, und ich werde es nie wieder tun, hat man
das Buch dann auch schon einer besten Freundin, oder Freund versprochen, weil
jener es „unbedingt sofort lesen muss!“ und man muss die so wertvoll gewordenen
Seiten in ihrem so familiär gewordenen Umschlag auch noch physisch aus der Hand
geben.
Nach einer kurzen Zeit von Nachsinnen und Nostalgie geht
dann, ohne dass man sich bewusst dafür entscheidet, die Jagd los. Man ertappt
sich dabei, dass man im Bahnhof aus Postkartenständern Bücher kauft und die
Bibliothek der Eltern durchstöbert nach einem Umschlag, der einen Hauch von
Intimität ausstrahlt, einen Namen, den man schon gehört hat, immer auf der
Suche. Es war doch einmal möglich, ich habe es doch erlebt, ich habe doch geliebt. Ich muss so etwas wieder
finden können. Und in diesen überhöhten Erwartungen passiert es dann immer und
immer wieder, dass man Bücher, die doch eigentlich nur gut sein können, nach
ein paar Seiten enttäuscht und von
Melancholie ergriffen, zur Seite legt.
Buenos Aires 29. Mai,
2009
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